CORVUS 1-05
"Die ganze Gelehrsamkeit hat dir also doch etwas gebracht!" Corvus lächelte erneut. Gut zu wissen, dass der Junge seinen Dienst ernst nahm. "Hast du ein Exemplar von Moridides in deiner kleinen Bibliothek dabei? Ich denke, sein Taktikon könnte für dich von Interesse sein."
"Nein, ich habe gehört, dass es lesenswert ist, aber die Zenturios haben uns so auf Trab gehalten, dass ich nie dazu kam, es kopieren zu lassen."
"Saturnius hat ein Exemplar. Ich werde dafür sorgen, dass er es dir zukommen lässt. Wahrscheinlich kannst du es sogar behalten. Ich bezweifle, dass er es jemals ausgerollt, geschweige denn gelesen hat."
"Wirklich? Niemals? Und seit wann hat er es?" Er schüttelte den Kopf. "Danke, Vater, aber ich werde es selber abschreiben und ihm dann zurückgeben. Ich habe gemerkt, dass ich mich besser an den Stoff erinnere, wenn ich ihn aufschreibe."
"Du bist jetzt kein Schreiber mehr. Hör zu, Marcus. Du musst verstehen, dass Lesen nicht der einzige Weg ist, wie ein Mann etwas lernen kann. Nichts, was du je gelesen hast, nichts, was die Hand eines Menschen je geschrieben hat, kann dich auf das vorbereiten, was du morgen sehen, hören und fühlen wirst."
Corvus blickte über die Wiese in die Richtung, aus der die Goblins kommen würden, und erinnerte sich an seine erste Schlacht. Das Warten. Das war es, woran er sich am meisten erinnerte. An das Warten. Und dann die Angst. Er musste in Schweigen verfallen sein, denn sein Sohn räusperte sich.
Corvus sah Marcus ernst an. "Es übersteigt unsere Vorstellungskraft. Der Schrecken, der einem in den Bauch fährt, wenn man den Feind zum ersten Mal in voller Zahl erblickt. Das Entsetzen, wenn das Gesicht eines Kameraden von einer Axt gespalten wird. Der grimmige Stolz deiner Männer, wenn sie standhaft bleiben und den Feind zurückschlagen. Die Erleichterung, die einen schwach werden lässt, wenn man plötzlich feststellt, dass alles vorbei ist... Ich kann dir das alles erzählen, aber es werden nur Worte sein - bis morgen. Eine Schlacht besteht nicht aus Worten. Die Schlacht, das sind Geräusche, Bilder und Gerüche, und viele davon schrecklicher, als du dir vorstellen kannst."
Vor allem die Gerüche. Er zog eine Grimasse. Jedes Mal dachte er, er wäre darauf vorbereitet. Und jedes Mal hatte er sich getäuscht.
Marcus nickte ebenso ernst. "Ich denke, Ihr beschreibt im Prinzip den Unterschied zwischen Form und Inhalt unseres Wissens. Das eigentliche Wissen über die Schlacht ist nicht deren abstrakte Form, die man im Nachhinein aus den Beschreibungen anderer konstruiert, sondern das Wissen, was man nur durch die vielfältigen Phänomene gewinnt, denen man in ihr ausgesetzt ist."
Corvus starrte seinen Sohn verblüfft an. "Bei allem, was rein und heilig ist, sag mir bitte, dass du nicht so mit deinen Rittern redest."
"Nein, Vater. Im Laufe meiner zugegebenermaßen kurzen Karriere habe ich gelernt, dass sie am liebsten über zwei Dinge reden: die Frauen, die sie in der Vergangenheit gekannt haben, und die Frauen, die sie in der Zukunft kennenzulernen hoffen." Marcus lachte. "Das heißt, wenn sie nicht gerade mit Glücksspielen beschäftigt sind. Ihr Interesse an Philosophie ist bestenfalls als de minimis zu bezeichnen."
"Tja, du bist nicht der Erste, der feststellt, dass die Interessen der amorranischen Soldaten eher begrenzt sind und sich hauptsächlich auf Rockzipfel beschränken." Corvus stellte sich das Gesicht des ersten Dekurios vor, wenn Marcus in seine Befehle diverse eher esoterischen Beobachtungen einflocht, inklusive Quellenangaben natürlich, und musste lachen.
Immer dann, wenn dieser junge Mann sich so hochgestochen ausdrückte, fragte sich Corvus, ob ihm Romilia womöglich nicht vollkommen treu gewesen war. Immerhin war er in den ersten Jahren ihrer Ehe viel auf Feldzügen unterwegs gewesen, und sie war eine begehrte Schönheit. Andererseits fiel ihm auch kein einziger ihrer Verehrer ein, dem man Marcus' Hang zur Gelehrsamkeit hätte anlasten können.
"Nun gut, Tribun, sollten wir uns nicht näher mit der wahren Beschaffenheit des Hügels vertraut machen, auf dem du und dein Vetter die rechte Flanke führen werdet? Sich die abstrakte Form seiner Steigung vorzustellen, ist das eine, aber persönlich zu erfahren, wie schwierig der Ritt hinauf für tausend kreischende Goblins auf Wölfen wäre, die einem alle die Kehle herausreißen wollen, das ist etwas völlig anderes."
Marcus antwortete nicht, aber auf seinem Gesicht zeichnete sich eine leichte Blässe ab. Anscheinend ließen sich selbst in gelehrten jungen Philosophen durch die Betrachtung der abstrakten Form eines gewaltsamen Todes in der Schlacht Gefühle wecken. Corvus kicherte und schritt auf die leichte Steigung unten am Hügel zu.
Es dauerte nicht lange, und beide standen schwer atmend oben auf dem Hügel.
Corvus streckte den Arm aus und deutete in einer weiten Bewegung über gesamte Breite des Feldes, das sie unter sich sahen.
"Siehst du den Baum da?" Er wies auf einen hohen Ahorn am südlichen Rand des Feldes. Seine leuchtend gelben Blätter waren noch nicht abgefallen und hoben sich deutlich von den Braun- und Rottönen der benachbarten Bäume ab. Ihr Abstand zu diesem Baum betrug fast ein Drittel der Strecke bis zum westlichen Ende des Feldes. "Wenn die Kundschafter recht haben, werden dort ihre hintersten Reihen stehen."
Marcus antwortete nicht. Immer noch atmete er schwer, und zwar schneller und lauter als zuvor. Corvus trat näher an seinen Sohn heran und legte ihm den Arm um die purpurgewandeten Schultern. Langsam, aber sicher, wurde der Atem des jungen Mannes ruhiger, bis er sich schließlich mit einem tiefen Seufzer entspannte.
"Alles wird anders, wenn man sich alles im Geist deutlich ausmalt, oder? Aber mach dir keine Sorgen. Du wirst Angst haben, Marcus, natürlich. Das ist völlig normal und sogar absolut notwendig. Ein Mann, der ohne Angst in den Kampf zieht, ist nicht mutig, sondern kaum mehr als ein Tier, dem es egal ist, ob es lebt oder stirbt. Und bei einem jungen Mann mit deiner lebhaften Fantasie ist es durchaus möglich, dass du am Ende die Realität weniger schrecklich findest als den Albtraum, den du dir im Kopf zusammengebraut hast.
"Es ist eine Prüfung deiner Mannhaftigkeit. Ich weiß, dass du sie bestehen wirst. Du bist ein echter Valerianer, und kein Mann, der den Namen Valerius trägt, hat jemals bei dieser Feuerprobe versagt. Selbst wenn die Schlacht einmal schlecht ausging. In den letzten vierhundert Jahren kam es vor, dass wir Valerianer besiegt wurden, dass wir uns zurückzogen oder dass wir im Kampf fielen, aber kein einziger von uns hat sich je als Feigling erwiesen, also wirst auch du nicht der Erste sein, dem dies geschieht."
To receive email notifications of Alpines section posts, you must opt-in even if you are already a Castalia Library subscriber. Dashboard - Subscriptions - Castalia Library.