PROLOG
"Wer bist du?"
Ahenobarbus starrte auf das verblichene Gemälde in dem vergoldeten Rahmen vor ihm an der Wand. Die flackernden Kerzen warfen einen unheimlichen Schein auf die Szene: Sechs bewaffnete Männer standen über dem Leichnam eines weiteren Mannes. Ahenobarbus, oder wie andere ihn ehrfürchtig nannten, Seine Heiligkeit Barmherzigkeit IV, konnte den Blick nicht von ihm wenden. Das Opfer war nackt. Sechs Mörder waren auf dem Bild zu sehen, aber der Körper wies sieben Wunden auf. Einer hatte zweimal zugestochen.
"Warum haben sie dich getötet?"
Das Gemälde trug den Titel "Decessus Inmortuus" - der Tod des Unsterblichen. Einst wurde es als Meisterwerk gepriesen. Jetzt aber befand es sich hier, weit unter der Erde in den Lagergewölben. Quintus stand in einem schlichten Raum, der gelegentlich zum Empfang untergeordneter Funktionäre genutzt wurde, tief in den Eingeweiden des Heiligen Palastes. Das Gemälde war erst vor kurzem aus den Lagerräumen hierhergebracht worden, aber ein Ehrenplatz war dies auch nicht gerade.
Die lebhaften Farben und die zweidimensionale, unnatürliche Perspektive waren typisch für den Künstler: Mariattus, der große Nardiner. Lediglich das Gesicht des erstochenen Mannes war dem Betrachter zugewandt, die sechs Attentäter sah man nur im Profil. Hatte Mariattus absichtlich die Aufmerksamkeit des Betrachters vornehmlich auf dieses Gesicht lenken wollen?
Ahenobarbus streckte einen arthritischen Finger aus und fuhr damit sachte über die Kieferkonturen des Ermordeten. "Und wie kann es sein, dass du nicht tot bist?"
An der Tür hinter ihm klopfte es leise und respektvoll.
"Herein."
Es war Giovannus Falconius Valens. Trotz seiner einfachen Mönchskleidung war nicht zu verkennen, dass es sich bei ihm um einen Kirchenfürsten adliger Abstammung handelte. Er war ein großer, gutaussehender Mann mit zumeist als arrogant empfundenem Auftreten, obwohl Ahenobarbus es besser wusste, denn er nahm ihm mitunter die Beichte ab. Valens war genau der Mann, den Ahenobarbus jetzt brauchte.
"Eure Heiligkeit." Valens kniete nieder und küsste Quintus' heiligen Amtsring. "Wie kann ich Euch in dieser... ungewöhnlichen Umgebung zu Diensten sein? Ich war überrascht, als Vater Hortensius sagte, Ihr wolltet mich hier unten in den Gewölben empfangen. Halb hatte ich erwartet, Euch knietief in Staub und Reliquien zu finden. Geht es Euch gut? Mir fiel auf, dass Gennarus Vestinae heute die Abendmesse hielt."
"Mir geht es so gut, wie es einem Mann möglich ist, der die ihm bestenfalls zustehenden neunzig Jahre um zwölf Jahre überschritten hat, mein Sohn." Ahenobarbus führte ihn zu dem Gemälde. "Was ich im Moment von dir brauche, sind deine Augen, da sie vermutlich schärfer sind als meine. Dieses Bild hier. Schau dir den Mann an, der von den anderen niedergestreckt wurde, was siehst du da?"
Valens runzelte die Stirn und hob kurz die Augenbrauen. Offensichtlich fand er die Bitte verwunderlich, dann aber besann er sich seines lebenslang geübten Gehorsams und betrachtete das Gemälde aufmerksam. Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann hielt er unvermittelt den Atem an: "Bei der Jungfrau!"
"Du siehst es also auch!", sagte Quintus.
"Allerdings, Eure Heiligkeit."
"Und wie erklärst du dir die Ähnlichkeit mit Laris Sebastius?"
"Ich... ich könnte es nicht sagen. Ein Zufall vielleicht? Oder gar ein Nachkomme?" Valens nahm eine Kerze und inspizierte das Gesicht des Opfers näher. "Die Ähnlichkeit ist verblüffend, vor allem, wenn man die begrenzten Möglichkeiten von Mariattus' primitiver Technik bedenkt."
Ahenobarbus lächelte. "Aha, du erkennst also den Pinselstrich. Wie kommt es, dass ein einfacher Mönch so viel von Kunst und Kultur versteht?"
Valens zuckte leicht mit den Schultern. "Ich sehe mich als asketischen Ästheten, Eure Heiligkeit."
"Hast du dieses Gemälde schon einmal gesehen?"
"Bislang hatte ich nicht die Ehre", sagte Valens. "Stil und Thema sind natürlich leicht zu erkennen, da Pisanus sie in seinem Katalog der alten Meister beschrieben hat. Es kann sich nur um Mariattus handeln. Diesen eigentümlichen Orangeton - Ihr seht ihn hier - hat er regelmäßig anstelle von Gelb verwendet, und das ist unverkennbar."
Valens stellte die Kerze ab. "Wenn ich eine Vermutung wagen darf, würde ich sagen, dass es sich hier um Excessum Inmortuus handelt. Oh nein, mein Gedächtnis lässt mich im Stich. Decessus Inmortuus! Es wurde um das Jahr 185 Provitiatus herum für einen Adligen aus dem Hause Severus gemalt. Kurz nach dem Sturz von Andronis und der Gründung der Republik gelangte es in den Besitz der Kirche. Ich wusste gar nicht, dass es nicht mehr in den Gewölben eingelagert ist, sonst wäre ich früher gekommen, um es zu besichtigen. Es ist eine wahre Freude, es sehen zu dürfen."
"Du hast erstaunliche Talente, mein Sohn."
"Mariattus hatte ein erstaunliches Talent. Ich bin lediglich damit gesegnet, seine Kunst zu schätzen."
"Und dennoch."
"Wir können nur so sein, wie der Unbefleckte uns geschaffen hat, Eure Heiligkeit."
"Treffend gesagt. Und doch, wenn dies kein Zufall ist oder eine Sinnestäuschung aufgrund gemeinsamer familiärer Abstammung, dann müssen wir uns fragen, was der Unbefleckte uns hier beschert hat. Langes Leben an sich ist natürlich keine Sünde. In der Tat leben ja heute Elfen, die schon alt waren, als dieses Bild entstand. Aber dies ist kein Elf. Ist es möglich, dass wirklich noch Menschen unter uns weilen, die fünfhundert Jahre oder länger leben?"
"Das wäre für mich schwer vorstellbar, Heiligkeit. Und doch wissen wir aus dem Unveränderlichen Wort, dass die ersten Menschen bis zu zweitausend Jahre alt werden konnten. Man nahm immer an, dass der starke Rückgang der menschlichen Lebensspanne eine Folge des Abzugs der Geringeren Götter aus Tellus Demittus war, aber konkrete Nachweise für einen solchen Zusammenhang fehlen bislang. Wie schon Oxonus betonte, hat ja selbst der Unveränderliche sich hierzu nie geäußert."
"Es wäre also denkbar. Schwer zu fassen, unwahrscheinlich, aber nicht unvorstellbar." Ahenobarbus richtete den Blick erneut auf das Gemälde und das verblüffend vertraute Gesicht des gefallenen Mannes. "Wir müssen mehr darüber herausfinden, Valens, und zwar bald. Die Investituren werden bereits vorbereitet, aber wir können nicht zulassen, dass sie stattfinden, wenn wir nicht einmal sicher sind, ob wir es mit einem Sterblichen zu tun haben oder nicht. Unsere älteren Brüder in den Schoß der Heiligen Mutter Kirche aufzunehmen, war das eine, aber einen Mann, dem möglicherweise die Seele fehlt, in der Hierarchie aufsteigen zu lassen, wäre undenkbar!"
"Ohne Zweifel, Eure Heiligkeit. Aber die Kandidaten werden erst in drei Tagen mit dem Fasten beginnen. Man könnte die Zeremonie verschieben."
"Wenn es erforderlich ist, werden wir das tun. Sprich mit niemandem darüber. Morgen werden wir eine Inquisition jedes einzelnen Kandidaten anordnen. Damit dürfte der Verdacht ausgeräumt sein, dass unsere Aufmerksamkeit einer bestimmten Person gilt. Du wirst dem Kandidaten zugeteilt, um den es hier geht. Die Inquisition wird natürlich bedauerlicherweise diverse Spekulationen auslösen, aber auch das kann sich als nützlich erweisen, denn selbst die abwegigsten Gerüchte werden glaubwürdiger klingen als unsere wahre Sorge.“
Valens verneigte sich tief. "Euer Vertrauen ehrt mich, Heiliger Vater. Wenn hier etwas nicht stimmt, werde ich es aufdecken."
"Drei Tage, Valens. Binnen drei Tagen müssen wir eine Entscheidung treffen. Bis dahin werden wir eine akzeptable Erklärung für die Verzögerung vorbereiten, sollte eine solche erforderlich sein."
"Eine verheißungsvolle Zeitspanne, Eure Heiligkeit." Valens lächelte leicht. "Der Unbefleckte hat die Tore der Hölle in drei Tagen zertrümmert. Ich werde beten, dass sich die Geheimnisse des Inmortuus ähnlich rasch offenbaren."
"Dasselbe werden auch wir tun, mein Sohn." Quintus streckte die Hand aus.
Valens kniete erneut nieder, um sie zu küssen. "Darf ich um Euren Segen bitten, Eure Heiligkeit?"
"Beatus homo qui invenit sapientiam." Quintus beschrieb mit leichter Hand drei Linien auf der Stirn des jüngeren Mannes, wobei sein Finger eine weiße Lichtspur erzeugte, die auch nach der Berührung kurz weiter leuchtete. "In hoc signo vinces, in nomine Puri, in nomine Immaculati, in nomine Domini."
Valens wartete mit geschlossenen Augen, bis das Licht auf seiner Haut verblasste. Dann erhob er sich leichtfüßig von den Knien, verbeugte sich erneut, drehte sich um und verließ mit schnellen Schritten den Raum, wobei er lautlos die Tür hinter sich schloss.
Ahenobarbus fühlte sich im Grunde nur selten gesegnet oder heilig. Er nahm die Kerze, die Valens benutzt hatte, zur Hand, hielt sie näher an das Gemälde und besah die raue Textur der Pinselführung. Bekanntlich arbeiteten Künstler des Öfteren versteckte Bedeutungen in ihre Werke ein. Was mochten die sieben Wunden bedeuten? Oder die sechs Mörder? Oder die Tatsache, dass nur ein einziges Gesicht von vorn zu sehen war? Und dann war da noch der Titel des Werkes - "Tod des Unsterblichen" - wies das nicht auf eine tiefere Bedeutung hin? Fragen über Fragen.
Was würde wohl geschehen, wenn er den betreffenden Bischof durch die Palastwachen in diesen Raum bringen ließ, um ihn mit seinem gemalten Doppelgänger aus ferner Vergangenheit zu konfrontieren? Eine plumpe Strategie, vielleicht sogar gefährlich, andererseits mochte der direkte Weg am ehesten zur gewünschten Antwort führen.
Nein, dafür war später immer noch Zeit, falls subtilere Methoden keinen Erfolg hatten.
Er betrachtete das Gemälde ein letztes Mal. Wenn Valens nur herausfände, wer diese sechs waren oder wen oder was sie darstellen sollten, dann würde die Spur sie möglicherweise auch zu dem Opfer der Mörder führen, egal ob es nun tot war oder bis heute fünf Jahrhunderte später weitergelebt hatte. Er beschloss, Valens am nächsten Tag darauf hinzuweisen.
"Wer bist du?", fragte er den Mann in dem Gemälde erneut. "Und wenn sie dich wirklich getötet haben, bist du dann in deinem Grab geblieben?"
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