CORVUS 1-06
"Wie fühlt man sich dabei?" Marcus Frage war kaum lauter als ein Flüstern. "Als in Elebrion die falschen Priester unsere Gesandtschaft angriffen, ging alles so schnell. Ich hatte nicht einmal Zeit, Angst zu bekommen. Ich habe einfach reagiert und getan, was zu tun war. Und bei den Scharmützeln mit unseren Patrouillen haben wir sie immer so leicht besiegt, dass es mir eher wie ein Jagdausflug als wie ein Krieg vorkam. Aber wenn ich jetzt dieses Feld sehe und mir das Ausmaß der kommenden Ereignisse vor Augen halt, kann ich es kaum fassen!"
Corvus lachte. "Das hat Marcus Saturnius uns beiden voraus. Er hat absolut kein Vorstellungsvermögen. Er denkt nicht an die einzelnen Männer in den Hundertschaften, und die zahlenmäßige Menge der Feinde beeindruckt ihn nicht. Für ihn ist das alles nur simples geometrisches Problem, das er lösen muss. Das Gesamtbild ist für ihn uninteressant. Deshalb ist er ein besserer Taktiker als ich, und ich wiederum bin aus dem gleichen Grund ein besserer Stratege als er. Strategie erfordert Vorstellungskraft, für Taktik hingegen braucht man vor allem Konzentration aufs Detail.
"Du fragst, wie man sich dabei fühlt... es ist irgendwie unwirklich. Ich meine, Krieg ist natürlich schon real, aber im Grunde fühlt er sich unwirklich an. Um dich herum passiert so viel, dass du oft den Eindruck hast, du stehst außerhalb deines Körpers. Du siehst alles und hörst alles, aber es kommt dir nicht so vor, als hätte irgendetwas davon mit dir zu tun."
Marcus trat mit dem Stiefel in die Grasnarbe vor ihm. "Das klingt seltsam. Ich weiß nicht, welche Antwort ich von Euch erwartet habe, aber das war es sicher nicht."
"Besser kann ich es nicht beschreiben. Mein erster Feldzug war der unter Falconius Carnifex während des Fünften Tributkrieges. In den ersten beiden Schlachten gegen die Eprani war es manchmal, als wäre ich gar nicht da. Ich fühlte mich in beiden Fällen irgendwie ... distanziert. Ja, distanziert - das trifft es wohl.
"Zum Beispiel sah ich, wie ein Speer den Mann neben mir durchbohrte, direkt oberhalb des Brustpanzers. Er taumelte rückwärts und ging in die Knie, wie du dir sicher vorstellen kannst, und das einzige, was mir in diesem Augenblick auffiel, war sein seltsamer Gesichtsausdruck, als er zu Boden sackte. Ich stand da und starrte ihn an, wie er da im blutbefleckten Gras lag, und sah nichts anderes, bis der Zenturio mir eine Ohrfeige gab."
"Der Zenturio?" fragte Marcus ungläubig. "Er hat Euch geschlagen?"
"O ja. Carnifex hielt nichts davon, seine Tribunen zu verhätscheln. Er schickte uns von Anfang an ganz vorn an die Front. Immerhin hat er uns in der Regel den Veteranenkohorten zugeteilt. Er verbrauchte Tribunen so ähnlich wie ein Reiter, der eine dringen Botschaft zu überbringen hat, Pferde verbraucht. Aber wenn man ihn überlebte, hatte man sich den Respekt der Infanterie verdient. Dann war man einer von ihnen, ein richtiger Legionär, kein Ritter oder Patrizier."
"Ich kann mir nicht vorstellen, dass die kriegerischen Familien seine Ausbildungsmethoden zu schätzen wussten."
Corvus schnaubte und schüttelte den Kopf. Jeder gefallene Tribun bedeutete für ein Adelshaus den Verlust eines potenziellen Erben. "Nein, ganz sicher nicht. Und daher wurde in meinem zweiten Feldzug die Legion von seinem Vetter, Falconius Bardus, befehligt. Ein Mann aus dem Hause Caerus ertränkte Carnifex in den Bädern, als er im Winter zuhause in Amorr war. Unter den Tribunen, die in der zweiten Schlacht gegen die Eprani an der Front fielen, als die sechste Kohorte überrannt wurde, war nämlich ein gwisser Titus Caerus, und dessen Vater hat daraufhin Carnifex getötet."
Sein Sohn hörte nicht zu. Stattdessen deutete er auf das andere Ende des Feldes. "Schaut, sie kommen zurück." Saturnius und die anderen fünf Reiter galoppierten über das voraussichtliche Schlachtfeld auf sie zu.
"Komm mit, wir gehen hier lang. Sie werden unsere Pferde losbinden und dann in der Mitte zu uns stoßen." Corvus pfiff laut und zeigte auf die Pferde. Der Legat winkte als Zeichen, dass er verstanden hatte.
Corvus war aufgrund seines Alters nicht mehr ganz so flink wie sein durchtrainierter Sohn und blieb daher einige Schritte hinter Marcus zurück, als sie den weniger steilen Hang auf der Südseite des Hügels hinunterliefen beziehungsweise -rutschten.
"Habt Ihr gesehen, ob sie jemand verfolgt?" rief Marcus.
"Nein, da ist nichts. Wenn Wölfe hinter ihnen her wären, würden sie schärfer galoppieren."
Als sie den Punkt erreichten, den Corvus als Zentrum der Legion and als Position der ersten Kohorte auserkoren hatte, hielten sie an, denn die anderen waren bereits bei den Pferden und zogen die Pflöcke heraus, die sie am Weglaufen hinderten. Corvus hatte sich noch nie so lebendig gefühlt. Er lachte und legte noch einmal den Arm um seinen Sohn. Gott im Himmel, der Junge war ja schon genauso groß wie er selbst!
"Der Tag morgen kann hart werden, aber ich bin so froh, dass du hier bist, Marcus. Als Junge hast du dich bestimmt gefragt, wo dein Vater all die Jahre war. Jetzt weißt du es: Ich war immer hier, genau hier, und habe darauf gewartet, dass du dabei bist. Das ist es, was uns ausmacht, das ist es, wofür wir geschaffen wurden!"
Sein Sohn schaute zu ihm hinüber, ein halbes Lächeln auf den Lippen. "Seltsam. Als Kinder sagt man uns, wir sollen unsere Väter lieben. Und sie achten. Aber ich kannte meinen kaum."
Corvus nickte unbeeindruckt. Er wusste, dass in gewisser Hinsicht eher Magnus Vater für den Jungen gewesen war als er selbst. Es war sicher nicht Corvus‘ Verdienst, dass aus Marcus ein vorbildlicher junger Patrizier geworden war. Die Körpergröße hatte der Junge vielleicht von ihm geerbt, aber ansonsten sah man an ihm unverkennbar die Spuren von Romilias Schönheit und von Magnus' Erziehung. Und nur Gott wusste, woher er seinen Verstand hatte.
"Aber jetzt, wo ich einer Eurer Soldaten bin", fuhr sein Sohn fort, "begreife ich, warum Eure Männer ihren General so sehr lieben. Als ich dort oben stand und mir das schreckliche Ausmaß des Ganzen zum ersten Mal bildlich vorstellte, hatte ich Angst. Ich habe es wirklich vor mir gesehen. Aber nachdem ich mit Euch sprach, hatte ich plötzlich keine Angst mehr. Vielleicht ist dies der Ort, der mir schon immer bestimmt war."
"Ha! Wenn du das morgen immer noch sagst, Junge, dann glaube ich dir vielleicht." Corvus wollte seinen Sohn necken, doch gleichzeitig spürte er, wie sich aus dem Innersten seines Herzens eine enorme Wärme in seinem Körper ausbreitete. "Wie steht's, Saturnius?", rief er, als der Legat mit Corvus‘ Pferd am Zügel auf ihn zu ritt. Faberus führte Marcus' Pferd herbei.
"Wir sollten uns besser beeilen, Corvus", sagte Saturnius. "Da streift eine große Patrouille herum, etwa zwanzig Wölfe. Sie werden uns bald wittern, wenn es nicht schon geschehen ist. Ich weiß nicht, ob wir uns überhaupt die Mühe machen müssen, morgen ein paar Schwadronen auszusenden, um sie hierher zu locken. Eher sollten wir planen, bei Sonnenaufgang sofort aufzubrechen, wenn wir nicht riskieren wollen, dass sie uns überrumpeln." Corvus sprang aufs Pferd und ergriff die Zügel.
"Sie kommen!", rief einer der Ritter.
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